(Theater)
Wir dachten schon, wir wüssten alles von und über Thomas Melle. Wie kaum einer hat der deutsche Schriftsteller sein mehrschichtiges Innenleben und seine bipolare Störung offengelegt, hat bis ins peinlichste Detail hinein von seinem manisch-depressiven Leiden vor sich selber schaudernd erzählt. Vor Augen haben wir noch seine eindringlich beschriebene “lasche Körperhaltung, die hängenden Schultern, die sichtbare Apathie”: so begegnete uns Melle auf 350 Seiten.
Und nun dies: Thomas Melle, den ohnehin im Innersten persönlichkeitsgespaltenen, gibt es ab sofort – mindestens – zweimal. In den Münchner Kammerspielen sitzt er zum einen leibhaftig im Publikum und dann noch einmal zum Verwechseln ähnlich auf der Bühne. Das lädierte Aussehen ist von früher, dieser Mann hier – diese Männer! – trägt korrekt Pullover, das Haar ist gescheitelt und die Haltung entspannt. Lassen wir Melle im Zuschauerraum einmal bis zum Schlussapplaus beiseite und konzentrieren wir uns auf Melle im Scheinwerferlicht, dann irritiert nur eines: am Hinterkopf ist die Figur, die dort im Sessel bequem sitzt, verkabelt. Ansonsten bleibt sie lässig mit übereinander geschlagenen Beinen, wiegt das Haupt, bewegt die Hände spärlich, spricht klar bei minimaler Bewegung der Lippen. Starr ist nur der Körper.
Dieser Melle, man ahnt es, ist nicht echt: ein Avatar, eine Maschine, ein humanoider Roboter. Und er ist die Hauptperson in dem Stück “Unheimliches Tal/Uncanny valley”, erdacht und realisiert von Stefan Kaegi von Rimini Protokoll und eben Thomas Melle, das von einem Thomas Melle handelt, der nur Thomas Melle spielt – oder umgekehrt? Eine Personality-Show mit Verwechslungsfallen?
Tatsächlich geht es vor allem um einen Menschen, der staunend bei seiner künstlichen Verdoppelung zusieht. Dass nebenbei auch die Fragwürdigkeit solcher Möglichkeiten verhandelt wird, die Nachteile von Original und Kopie ausgelotet werden, dass sich der kurze Abend zum langen Verwundern irgendwie um ausgelagerte Biografien, Kontrollverlust, Unstetigkeit und “Risse im Gewebe” des Wahrhaftigen und Verständlichen dreht – natürlich, auch das kommt zur Sprache.
Melles abgrundtiefer Gedanken
Aber mal ehrlich, wirklich interessant und frappierend ist doch eigentlich diese perfekte Puppe da vorne, die jetzt zur allgemeinen Belustigung mal kurz den linken Fuß um 360 Grad dreht. Das kann keiner im Publikum, dem die zirzensische Vorführung vielleicht wie ein böser Traum von der schlimmen neuen Welt verkauft werden soll, das aber eher so eine Art unendlichen Science-Fiction-Spaß an dem Programm zu haben scheint. Nach dem verhaltenen Gliedermaßen-Ballett wird die Szene abgesperrt und man kann sich das Wunderwerk der Technik von allen Seiten anschauen wie einen Formel-eins-Boliden.
Wenn man Melles “Die Welt im Rücken” aufmerksam liest, dann stolpert man über einige Stellen, die schon auf diesen Abend hinweisen. Er schreibt da mal, er gehöre mit seiner unkontrollierbaren psychischen Krankheit, während und zwischen den manisch-depressiven Schüben der “Klasse der unbelebten Gegenstände” an, er wäre “aus Plastik, meine Adern sind Kabel” und ein “knochenloser Parasit”: “Etwas sitzt da. Ich bin nichts. Etwas sitzt da und ist nicht mehr.” Und tatsächlich ist “Unheimliches Tal” im Grund nur die Silikon- und Elektronik-Werdung dieser abgrundtiefen Gedanken. Die sich freilich hier eher ungefährlich, nett und verspielt, verliebt in die Kunst des Machbaren zeigt.
Was hat das mit dem Theater überhaupt zu tun?
Zwar sinniert Melle als Mensch (Text und Stimme stammen von ihm) und Maschine über die schweren Fragen nach Verantwortung im Zeitalter der endlosen technischen Reproduzierbarkeit; über den metaphorischen Tod, den so eine “Jahrmarkts-Attraktion” ereilen kann oder auch nicht (ewiges Leben durch Festplatten-Wechsel!); über den Computer als Sklaven seines Schöpfers und über die Technik als die wahre Natur des Menschen. Bedenkenswert auch der Einwurf, ob man zögert, wenn der Computer einen fragt, ob man ein Roboter ist. Es gibt einen biografischen Ausflug zu einem Mann, der das Gehör abschalten kann und ins Leben des amerikanischen Informatikers Alan Turing, einem Pionier der Computer-Entwicklung, der freilich auch Leidensgenosse Melles war: mittels Medikamenten machte man aus ihm einen anderen Menschen als ihm selber lieb war.
Aber das alles ist in sonorem Tonfall erzähltes, mit Säuselmusik, durch man bisweilen die Motorik durchhört, unterlegtes theoretisches Beiwerk von der Gummilippe, wie auch die Frage, warum dies alles im Theater stattfinden muss und was das mit dem überhaupt zu tun hat nur ein tänzelnder Scheinwerfer dürftig wacklig beantwortet. Immer öfter wird man stattdessen in kleinen Filmen mit der Vermessung des Thomas Melle konfrontiert, sieht, wie die Arme und Hände kopiert werden, leidet mit dem Autor, wie er eine bedrohliche Totenmasken-Prozedur über sich ergehen lässt oder gruselt sich ein wenig vor dem Kunst-Gerippe, dass ferngesteuert die Gesichtszüge in die täuschend ähnlichen Larve zaubert. Mit der allseits eingeforderten “Verwandlung”, die Sache des Theater und des Schauspielers sein sollte, hat solch Mimikry freilich nichts zu tun.
Inszenierte Überwältigung statt Überzeugung
Eine höchst aufwendige Spielerei, die im Deutschen Museum stattfinden könnte, und wieder einmal das alte/neue Problem: das Theater rennt der zukünftigen Zeit hinterher, probt den technischen Fortschritt und kopiert dessen Erfolge, sein Scheitern. Vor lauter Machbarkeitseifer vergisst es aber die Inhalte: statt Überzeugung nur noch inszenierte Überwältigung. Mit einer ziemlich läppischen Moral noch obendrein: fernsehonkelhaft beruhigt Thomas Melle – ja welcher nun: der wahre oder der Golem? – die Zuschauer, die möglicherweise kurzfristig Unbehagen befiel ob der austauschbaren Geister, die da auf sie zukommen könnten.
Tatsächlich hätte man in dieser Stunde doch Gefühle geteilt – “wie in einem sehr alten, sehr menschlichen Programm.” Bleibense Mensch, sagt die Maschine! Eine harmlose Münchner Puppenkiste.
“Unheimliches Tal / Uncanny Valley”, 7., 15., 17., 30. Oktober, 13. bis 15. November, an den Münchener Kammerspiele.
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